(c) Heinz Pichler

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Vive l’Europe! #57 - Radikalisierung im Netz: Politik reagiert relativ träge!

Barbara Prainsack in Holger Marcks se posvečata vprašanju, kako digitalna okolja spodbujajo radikalizacijo in poglabljajo družbeno polarizacijo. Oba sogovornika opozarjata, da trenutni politični odzivi in obstoječa regulacija zaostajajo za hitrim razvojem platform in umetne inteligence.

Wie können Radikalisierung und gesellschaftliche Polarisierung in sozialen Medien wirksam eingedämmt und besser kontrolliert werden? Sind rechtsextreme Bedrohungserzählungen bereits tief in die Gesellschaft eingedrungen? Warum ist die Einrichtung eines Ethik- oder Presserats für soziale Medien notwendig? Welche Inhalte fördern digitale Mündigkeit und ein reflektiertes Nutzungsverhalten? Außerdem: Wem gehören die im Netz gespeicherten Daten? Warum reagiert die Politik so zögerlich auf die komplexen Herausforderungen der digitalen Welt? Und, was steckt hinter den Titeln „Digitaler Faschismus“ und „Datenschlussverkauf“? Antworten darauf liefern die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack und der Radikalisierungsforscher Holger Marcks, der einleitend die Frage beantwortet, ob radikale Gruppierungen, die über soziale Medien agieren, von Staatsicherheitsorganen ausreichend beobachtet bzw. kontrolliert werden:

Es hängt davon ab, was man jetzt natürlich als die Bedrohungslage begreift. Die klassischen Organisationsstrukturen, in denen sich früher Gruppen radikalisiert haben – Subkulturen, informelle Zusammenhänge auch, vielleicht auch Underground mäßig, vielleicht auch öffentlich – die kann man sehr gut überwachen. Da haben sich ja auch durch die Digitalisierung die nachrichtendienstlichen Methoden auch verbessert.

Das Problem ist eher diese individuelle Radikalisierung, die bis in die Militanz führen können. Das kann man schwer einfangen. Wenn jemand auf eine IS-Propaganda anspringt und sich sozusagen blitzradikalisiert, oder wenn junge Leute in den rechtsextremen militanten Onlinesumpf geraten und sich dann, auch wie wir das Ende der 2010er Jahre oder Anfang der 2020er Jahre gesehen haben, in die Militanz bewegen. Das sind Prozesse, die ganz schnell passieren und die man nicht unbedingt auf dem Radar hat, wenn die Leute nicht öffentlich was dazu verkünden.

Und letztendlich ist auch die kollektive Radikalisierung der schleichenden Art vielleicht ein Problem, das dazu führt, dass sich auch auf beiden Seiten sozusagen der Wille abtrainiert wird, sich einander zuzuhören, noch Brücken zu bauen und dass vor allem auch die vermittelnden Stimmen in der Gesellschaft ins Hintertreffen geraten. Das ist das eigentliche Problem.

Der Radikalisierungsexperte sieht also eine Tendenz zur „Radikalisierung der schleichenden Art“, das individuelle Radikalisierung vielfach nicht greifbar ist und dass die vermittelnden Stimmen im digitalen Raum vielfach ins Hintertreffen kommen. Welche Auswirkungen, etwa im Wählerverhalten, sind zu beobachten?

Tatsächlich ist es so, dass auf der Einstellungsebene große Teile der Bevölkerung gar nicht so weit auseinander liegen. Aber im sozialmedialen Diskurs, im medialen Diskurs und im politischen Diskurs eher die polaren Stimmen dominieren, auch durch die digitale Öffentlichkeit. Also wir haben durchaus einen wachsenden Sockel, zum Beispiel bei AfD Wählerschaften, die manifest rechtsextreme Einstellungen teilen. Aber das sollte man auch nicht pauschalisieren. Die Motive zum Beispiel, warum Leute rechts wählen, die sind vielschichtig. Das können ganz unterschiedliche Themen sein, die Leute unterschiedlich priorisieren und was vor allem die Erfolge der AfD in Deutschland zusammenhält. Das ist als Kitt natürlich das große Migrationsthema. Da ist es auch gelungen, viele Wähler von den Parteien loszulösen, die zum Beispiel eher das Arbeiterklientel über viele Jahre gebunden haben - die SPD oder die Linkspartei. Insbesondere im Osten, in Deutschland, und das sind eigentlich SPD-Wähler zum Beispiel gewesen. Die machen auch einen Anteil der rechten Erfolge aus. Da gibt es vor allem eine hohe Unzufriedenheit mit dem Migrationsthema, auch verstärkt durch die digitalen Diskurse usw., aber das heißt nicht, dass man da jetzt von illiberalen Einstellungen völlig durchdrungen ist und von der Programmatik der Partei überzeugt ist. Und da gibt es auch Potenzial, natürlich da Leute abzuziehen, die man nicht als radikal bezeichnen kann.

Zu seinem Buchtitel „Digitaler Faschismus“ und der Frage, was die Kernbotschaft seiner Publikation ist, meint Holger Marcks:

Das Buch versucht zu ergründen, inwiefern rechtsextreme Bedrohungserzählungen insbesondere sozusagen in der digitalen Öffentlichkeit besonders gut Verbreitung finden. Also uns interessiert das Zusammenspiel von solchen dramatischen Erzählungen wie etwa der „Volkstod“, „Der Untergang der Nation“. Warum das so gut verfangen kann über die digitalen Strukturen, über die Mechanismen der sozialen Medien. Also dieses spezifische Zusammenspiel von politischer Ideologie und Strategie mit den Strukturen der sozialen Medien.

Daran anschließend stellt sich die Frage: Sind rechtsextreme Bedrohungserzählungen bereits tief in die Gesellschaft eingedrungen? – dazu meint der Radikalisierungsforscher,…

… man kann aus der Einstellungsforschung herauslesen, dass ein Großteil der Bevölkerung eigentlich recht moderate und vermittelnde Positionen pflegt. Das sind aber nicht unbedingt die Leute, die auf den sozialen Medien aktiv sind, weil die sozialen Medien ziehen halt eher etwas extrovertiertere, geltungsbedürftige, auch extremere Akteure an und die dominieren sehr stark den digitalen Diskurs links wie rechts, sodass die vermittelnden Stimmen in der Öffentlichkeit ganz generell ins Hintertreffen geraten. Und die operieren sehr stark mit dramatischen Erzählungen. Das ist nicht nur der extremen Rechten vorbehalten. Dramatische Erzählungen sind einfach das, was besonders gut geht. Das ist die Währung, die besonders gut geht, in der Ökonomie der sozialen Medien.

An Ideen und Vorschlägen für eine De-Radikalisierung mangelt es nicht, so der Radikalisierungsexperte Marcks, die Frage wäre, wie können diese realisiert werden – seine Einschätzungen dazu sind eher pessimistisch,…

… wie gesagt, die Situation ist polarisierend, weswegen alle Eingriffe in die sozialen Medien auch zu Problemen führen. Und ich sehe es tatsächlich pessimistisch, dass wir vielleicht ein Zeitfenster verschlafen haben, wo eine Regulierung in einem gesetzteren Klima in einer weniger aufgeheizten Stimmung möglich gewesen wäre. Die sozialen Medien haben mittlerweile eine Eigendynamik übernommen. Wir werden jetzt auch von der KI-Entwicklung überrollt. Die Politik reagiert relativ träge darauf. Der Reformstau wächst sozusagen tagtäglich an und ich sehe nicht, dass wir das momentan eingefangen bekommen. Da muss ich grundsätzlich erst mal was in der politischen Konstellation ändern. Den Willen und auch die Fähigkeit, vielleicht so umfassende Reformen zu machen, wie es notwendig wäre, sehe ich gerade nicht gegeben. Also wir werden uns eher damit beschäftigen müssen, was die Digitalisierung uns noch so alles bringt in ihrem fortschreitenden Verlauf.

Notwendige staatliche Eingriffe seien auch aus der Sicht der Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack erforderlich. Als Vorsitzende der Europäischen Gruppe für Ethik und neue Technologien berät sie regelmäßig die Europäische Kommission. Auf deren Anfrage zum Thema „Demokratie im digitalen Raum“ wurde eine Stellungnahme verfasst, die Vorschläge zur Regulierung beinhaltet, – die Überlegungen dazu…

… haben wir unter anderem gesagt, dass man allein mit der Regulierung der Inhalte von sozialen Medien nicht weiterkommen wird. Also die Regulierung der Inhalte, wie zum Beispiel Hass im Netz - Gesetze sind wichtig, aber es reicht nicht aus. Denn früher waren Debatten und Diskussionen oft im Kaffeehaus, da hat man auch gestritten. Aber der Kaffeehausbetreiber hat nicht davon gelebt, dass sich die Leute grauenhafte Bilder zeigen und sozusagen die Köpfe einschlagen. Während das aber heute sehr wohl der Fall ist, dass im digitalen Kaffeehaus sozusagen, dass das hier die Unternehmen schon davon leben, dass möglichst gravierende und erschreckende Inhalte geteilt werden, weil es die Verweildauer erhöht usw. Das kann man nicht nur verändern, indem man die Inhalte reguliert, die geteilt werden dürfen, auch weil den Konzernen das ja wurscht ist - die zahlen dann halt Strafen. Sondern man müsste letzten Endes die „Eigentumsverhältnisse des Kaffeehauses“ verändern. Also man müsste schauen, dass diese digitalen Plattformen auch im gemeinsamen Eigentum der Bevölkerung stehen und nicht alle im Eigentum von großen Technologiekonzernen.

Stellt sich die Frage, welche Antwort die Europäische Kommission dazu geäußert hat:

Die Antwort der Kommission ist bisher keine. Also nicht in die Richtung, die wir uns gewünscht haben. Außer, dass ist natürlich im Bereich der Künstlichen Intelligenz, wo es jetzt schon Bestrebungen gibt, hier gemeinsame Ressourcen zu schaffen, die uns allen, also der Bevölkerung Europas gehören. Also dass man hier nicht den Raum nur den Technologiekonzernen überlässt. Geht es uns weit genug? Nein, es geht uns nicht weit genug. Wir würden uns hier mehr wünschen von der Europäischen Kommission.

Weitere Anliegen, die der Politikwissenschaftlerin wichtig erscheinen, wurden in der Arbeitsgruppe „Soziale Medien und Demokratie“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zusammengefasst. Ein zentraler Punkt lautet:

Wir haben einen Presserat gefordert, der, so wie das bei den „herkömmlichen“, bei den Printmedien, existiert, auch bei sozialen Medien ein Kontrollorgan ist, das sich auch in Form der Selbstregulierung und in Form außenstehender Kontrolle dafür einsetzt, dass hier Praktiken, die problematisch sind, auch öffentlich werden und dass man jene, die besonders problematische Dinge tun, auch zur Rechenschaft ziehen kann. Denn das gibt es heute in der Landschaft digitaler Plattformen und sozialer Medien praktisch nicht. Es gibt kaum demokratische Kontrolle, es gibt keine Ethikräte, es gibt keine Presseräte. Es gibt kaum Regeln, die sich die Firmen nicht selbst geben. Und das ist ein Problem.

Eine generelle Problematik, die Prainsack anspricht, ist die Frage: Wem gehören die Daten und welche demokratischen Kontrollen gibt es? Es bestehe nämlich ein Missverständnis, denn die digitalen Konzerne wären nicht die Eigentümer der Daten:

Die sind nicht die Eigentümer der Daten! Also die tun so, als wären sie die Eigentümer der Daten. Aber es gibt in Europa und im Großteil der Welt kein Eigentumsrecht an Daten. Das heißt, wenn wir Daten als etwas, was uns allen gemeinsam gehört, nämlich der Bevölkerung, sehen, dann sind wir dort. Also dann sind wir bei dem, was ich mit Demokratisierung meine. Ich meine nämlich demokratische Kontrolle. Also, dass man die digitalen Räume, in denen Debatten stattfinden, dass man (die) auch als Bevölkerung kontrollieren kann und mitentscheiden kann, nach welchen Regeln das funktioniert, wer gehört wird, wessen Bilder gesehen werden. Dass das nicht einfach Algorithmen sind, die die grauslichsten Bilder und die krassesten Aussagen sozusagen in den Vordergrund spülen, damit möglichst viele Leute möglichst lange auf den Plattformen bleiben und dann möglichst viel Werbeeinnahmen kommen. Also es geht nicht darum, dass der Staat das alles besitzen soll, notwendigerweise, sondern es geht darum, dass wir als Bevölkerung die Regeln machen können. Und das können wir heute im digitalen Raum nicht.

Digitale Mündigkeit sei das Rezept, um sich vor den Unannehmlichkeiten, die im digitalen Raum verbreitet werden, zu schützen. Wie kann man digital mündig werden? So lautet die Schlüsselfrage. Und welche inhaltlichen Punkte wären anzusprechen?

Meine kurze Antwort darauf lautet, dass die digitale Bildung in den Schulen bereits viel mehr Aufmerksamkeit darauf lenken sollte, wer eigentlich von unseren Daten profitiert. Was passiert, wenn ich meine Daten dort und dort freigebe? Was würde im Gegenteil dazu passieren, wenn man Daten als gemeinsames Eigentum der Bevölkerung sehe? Wenn wir dann plötzlich gemeinsam Einkommen hätten, davon, dass jemand, dass große Firmen die Daten nutzen? Wenn man zum Beispiel durch das Teilen von Gesundheitsdaten auch zusätzliches Einkommen für das Gesundheitssystem schaffen könnte, usw, usw. Also diese politischen Fragen – nicht parteipolitisch – aber diese gesellschaftspolitischen Fragen - das sollte die digitale Bildung beschäftigen, und das wäre ein großer Schritt hin zur digitalen Mündigkeit.

Im März 2026 erscheint Barbara Prainsacks neuestes Werk „Datenschlussverkauf“ – Untertitel: „Solidarität in der digitalen Welt“, Verlag Wagenbach. Abschließend die Frage: Was verbirgt sich hinter diesem Titel?

Es geht um Datensolidarität. Also was bedeutet Datensolidarität? Datensolidarität versucht, den Nutzen, den man aus der Anwendung digitaler Daten hat, aber auch die Kosten, gerechter zu verteilen. Denn heute ist es so, dass relativ wenige Leute finanziell profitieren. Das sind eigentlich hauptsächlich große Konzerne - dass die Bürgerinnen und Bürger wenig finanziell profitieren und dass insbesondere auch Leute in Ländern, die ohnehin schon niedrige Einkommensländer sind, dass die eigentlich nur Daten liefern und überhaupt keine Benefits, überhaupt keinen Nutzen haben, auch keinen oder wenig Nutzen bezüglich der Produkte, die man dann auch entwickeln kann aus Daten. Also wir versuchen, oder man versucht, im Rahmen der Datensolidarität die digitale Wirtschaft etwas gerechter zu machen.

Holger Marcks opozarja, da je največja nevarnost »tiha radikalizacija«. Ekstremni impulzi se širijo hitro in neopaženo, medtem ko so glasovi iz sredine potisnjeni v ozadje. Sogovornik še pojasni, da logika digitalnega sveta nagrajuje dramatične pripovedi, kar radikalnim glasovom daje nesorazmerno moč. Tako se ojača politično sporočilo, ki ni nujno odraz dejanskega mnenja večine prebivalstva, umirjeni glasovi v javnosti pa so pogosto v podrejenem položaju.

Barbara Prainsack pojasni, da se ne bo nič spremenilo samo z uvedbo novih regulativ. Ključno je, da spremenimo lastniške in nadzorne strukture platform, ker podjetja živijo od tega, da se delijo čim bolj resne in zastrašujoče vsebine. To namreč poveča čas, ki ga uporabniki preživijo na spletu. Prainsack opozarja tudi na demokratični primanjkljaj pri upravljanju podatkov. Podjetja niso lastniki podatkov, se pa pogosto obnašajo tako. Digitalni prostor bi torej morali urediti po pravilih, ki jih soustvarja družba, ne korporacije.

Sogovornika se strinjata, da potrebujemo nove institucije – etične in nadzorne svête za družbena omrežja –, obenem pa manjka digitalno izobraževanje, ki bi ljudi usposobilo za razumevanje manipulativne dinamike omrežij. Problem je po njunem jasen: digitalna infrastruktura spodbuja ekstremnost, nadzora skoraj ni, politika pa zaostaja.

 

Kurzbiografien:

Univ.-Prof. Dr.in Barbara Prainsack ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien; Vorsitzende der Europäischen Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Technologien, die die Europäische Kommission berät. Sie forscht zur Regulierung digitaler Technologien sowie zur Rolle von Solidarität in Medizin und Gesundheitswesen. Weiters ist sie Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Akademien (u.a. Academia Europaea, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Honorary Professor an der Universität Sydney). Hinweis zum Buch „Datenschlussverkauf“ unter:  https://www.wagenbach.de/buecher/titel/datenschlussverkauf.html

Dr. Holger Marcks ist Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt auf Radikalisierung und Polarisierung im digitalen Kontext und assoziiert mit dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Er arbeitet am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena und wissenschaftlicher Redakteur von »Machine Against the Rage«, einem Online-Magazin für digitale Konfliktforschung. Hinweise zum Buch „Digitaler Faschismus“ unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/fielitz-und-marcks-digitaler-faschismus-mythen-und-100.html

Die beiden Interviews wurden im Rahmen einer Veranstaltung der Organisation: Landschaft des Wissens | Wissenschaftsverein Kärnten, zum Thema: „Kollektive Radikalisierung!? Wie soziale Medien die Demokratie bedrohen“, am 24. November 2025, in Villach/Kärnten aufgenommen.